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Lynch-Syndrom
Dickdarmkrebserkrankungen ohne Polyposis
FAMILIÄRER DICKDARMKREBS
Neben den monogenen Ursachen mit vererbten Keimbahnmutationen in einem definierten Gen gibt es
wahrscheinlich die multifaktoriellen Formen von Dickdarmkrebs. Dabei müssen bei einer Person mehrere
genetische Veränderungen vorliegen, die in der Summe eine Risikoerhöhung für Dickdarmkrebs bewirken. Das
Erkrankungsrisiko beschränkt sich auf den Dickdarm und ist bis zum 70. Lebensjahr mit maximal etwa 30
Prozent anzugeben. Allen erstgradig verwandten Familienmitgliedern eines Patienten (Eltern, Geschwistern oder
Kindern) ist eine intensivierte Vorsorge zu empfehlen.
LYNCH-SYNDROM (HNPCC)
Das erbliche kolorektale Karzinom ohne Polyposis wird nach dem Erstbeschreiber auch Lynch-Syndrom genannt.
Wir haben über diese Krankheit in den letzten Jahrzehnten viel dazu gelernt. Sie beruht auf Mutationen in
einem der DNA-Reparaturgene MLH1, MSH2, MSH6, PMS2 oder EPCAM. Da die Mutationen über die Keimzellen
über die Generationen vererbt werden, spricht man von Keimbahnmutationen. Die von den DNA-Reparaturgenen
kodierten Proteine haben die Aufgabe, die bei jeder Zellteilung entstandenen Fehler im genetischen Material
zu korrigieren. Normalerweise hat jeder Mensch in jeder Körperzelle zwei intakte Genkopien eines DNA-Reparaturgens,
eines vom Vater und eines von der Mutter. Erbt jemand eine genetische Veränderung in der Genkopie
eines DNA-Reparaturgens, dann liegt dieser Fehler in allen Körperzellen vor (Keimbahnmutation). Die Körperzellen
können mit nur einer Genkopie die DNA-Reparatur aufrecht erhalten. Wenn in einer Darmzelle durch einen
Alterungsprozess des genetischen Materials die zweite Genkopie ebenfalls funktionslos wird, kann die Zelle die
bei der Zellteilung auftretenden Fehler nicht mehr korrigieren. Hieraus ergibt sich eine so genannte genetische
Instabilität (Mikrosatelliteninstabilität), deren Vorliegen durch eine Analyse des Tumorgewebes nachgewiesen
werden kann. Die vererbbare Keimbahnmutation in einem der DNA-Reparaturgene führt zu einer Mikrosatelliteninstabilität
(MSI) im Tumorgewebe und ist die genetische Grundlage des Lynch-Syndroms, einer Form des erblichen Dickdarmkrebses.
Um das Vorliegen eines Lynch-Syndroms zu erkennen, ist zunächst einmal eine Analyse des Tumorgewebes hinsichtlich
des Vorliegens einer MSI sinnvoll. Hierzu benötigt
man das Tumorgewebe, das nach der Operation in der Pathologie fünf bis zehn Jahre lang aufbewahrt wird. Für
diese Analyse gibt es zwei Möglichkeiten. Zum einen die Mikrosatellitenanalyse, bei der aus dem Tumorgewebe
das genetische Material isoliert und in einer Laboranalyse mit dem genetischen Material aus der Blutprobe des
Patienten verglichen wird. Finden sich Unterschiede in der DNA aus dem Tumor und der Blutprobe, bezeichnet
man den Tumor als „mikrosatelliteninstabil“. Zum anderen gibt es die immunhistochemische Analyse. Wenn in einem
Tumor beide Genkopien für ein DNA-Reparaturgen ausgefallen sind, ist zu erwarten, dass auch das von diesem
Gen synthetisierte Protein nicht mehr nachweisbar ist. Eine immunhistochemische Analyse zum Nachweis
der DNA-Reparaturproteine kann ebenfalls zuverlässige Hinweise auf das Vorliegen eines Lynch-Syndroms liefern.
In manchen Ländern werden alle kolorektalen Karzinome hinsichtlich einer MSI (entweder durch die immunhistochemische
Analyse oder durch die Mikrosatellitenanalyse) analysiert, um einen Hinweis auf erbliche Fälle zu
erhalten. In Deutschland ist dies leider nicht der Fall. Oft erfolgt die Testung aber auch aus therapeutischen Gründen,
da MSI-Tumore gut auf Immuntherapien ansprechen. Hier ist der erste Schritt bei der Erfassung einer erblich belasteten
Familie die Erhebung der Familienanamnese, also die Frage nach Erkrankungsfällen in der Familie. Bei positiver
Familienanamnese ist der nächste Schritt die Analyse des Tumorgewebes hinsichtlich einer MSI. Ergeben sich
hier Hinweise auf ein Lynch-Syndrom, folgt die Analyse der DNA-Reparaturgene zum Nachweis der vererbten
Keimbahnmutation und somit die Sicherung der Diagnose eines Lynch-Syndroms.
Durch den Nachweis einer ursächlichen Keimbahnmutation in einem der DNA-Reparaturgene ist ein Lynch-
Syndrom bewiesen. Eine wichtige Frage ist: Welcher Patient soll auf eine Keimbahnmutation untersucht werden?
Hierfür sind klinische Kriterien erarbeitet worden.
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Kolorektales Karzinom |
32 - 73 % |
Gastroenterologie, Pathologie, Chirurgie |
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Endometriumkarzinom * |
39 - 50 % |
Gynäkologie |
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Ovarialkarzinom * |
7 - 8 % |
Gynäkologie |
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Karzinom Nierenbecken / Harnleiter |
2 - 8 % |
Nephrologie / Urologie |
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Magenkarzinom |
1 - 7 % |
Gastroenterologie |
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Gallengangskarzinom |
1 - 4 % |
Gastroenterologie |
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Dünndarmkarzinom |
1 - 4 % |
Gastroenterologie |
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ZNS-Tumore |
1 - 3 % |
Neurologie / Neurochirurgie |
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Pakreaskarzinom |
4 % |
Gastroenterologie |
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Talgdrüsentumore (Muir-Torre) |
1 - 9 % |
Dermatologie, Pathologie |
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* bezogen auf weibliche Personen
Die vererbte Keimbahnmutation in einem DNA-Reparaturgen liegt bei einem Anlageträger für ein Lynch-Syndrom
in allen Körperzellen vor. Manche Gene sind nicht in allen Geweben aktiv und die Dynamik der Zellteilungen
in den Geweben variiert, so dass das Tumorrisiko in verschiedenen Organen beim Lynch-Syndrom unterschiedlich
hoch ist. Da das Risiko für Tumoren in Gebärmutterschleimhaut, Dünndarm, Eierstöcken,
Magen, Haut, ableitenden Harnwegen, Zentralnervensystem ebenfalls erhöht ist, hat die Krankheit einen „syndromalen“
Charakter.
Ebenso ist die verkürzte „Adenom-Karzinom-Sequenz“ zu beachten. Das heißt, aus einem Polypen beziehungsweise
Adenom kann innerhalb von ein bis zwei Jahren Darmkrebs entstehen, wohingegen dies bei Patienten
ohne Lynch-Syndrom in der Regel fünf bis zehn Jahre dauern kann. Diese verkürzte Adenom-Karzinom-
Sequenz macht kurzfristige Vorsorgeintervalle notwendig (siehe Kapitel 7).
Allen etwaigen Risikopersonen in der Familie ist eine intensivierte Vorsorge zu empfehlen. Das kumulative, also
das sich im Laufe der Zeit steigernde Erkrankungsrisiko für ein kolorektales Karzinom oder einen assoziierten Tumor
beträgt bis zum 70. Lebensjahr 50 bis 80 Prozent.
Vorsorgeempfehlungen
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Alte Empfehlungen
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Neue Empfehlungen
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Körperliche Untersuchung |
Jährliche körperliche Untersuchung |
Regelmäßige körperliche Untersuchung |
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Kolorektales Karzinom |
Jährliche Koloskopie ab dem 25. Lj. |
Koloskopie alle 12-24 Monate ab dem 25. Lj. |
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Magen/Dünndarmkarzinom |
Jährliche ÖGD ab dem 35. Lj. |
ÖGD alle 12-36 Monate ab dem 25. Lj. |
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Ovarialkarzinom |
Jährliche gynäkologische Untersuchung mit transvaginalem Ultraschall ab dem 25. Lj. |
keine |
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Endometriumkarzinom |
Jährliche Endometriumbiopsie (Pipelle) ab dem 35. Lj. |
Optionale Durchführung eines transvaginalen Ultraschalls und
einer Endometriumbiopsie ab dem 30.-35. Lj. |
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Wenn bei einem Patienten die für das Lynch-Syndrom verantwortliche Keimbahnmutation identifiziert worden
ist, können die gesunden Verwandten durch eine genetische Untersuchung aus einer Blutprobe auf die
bekannte familiäre genetische Veränderung untersucht werden. Dabei handelt es sich um eine vorhersagende
(prädiktive) genetische Diagnostik. Das Gendiagnostikgesetz schreibt vor, dass eine derartige Untersuchung
nur nach einer genetischen Beratung durchgeführt werden darf.
GENETISCHE BERATUNG
Familien mit erblichen Erkrankungen sollte auf Veranlassung ihrer betreuenden Ärzte ganz grundsätzlich ein
humangenetisches Beratungsgespräch angeboten werden. Dies gilt natürlich auch für erbliche Tumorerkrankungen.
Es gibt sicher noch eine ganze Reihe verschiedener erblicher Tumorsyndrome, die bislang noch nicht alle
molekulargenetisch nachgewiesen werden können. Die Diagnosestellung in diesen Familien resultiert aus
der ausführlichen Stammbaumanalyse und der Einsicht in die Befundunterlagen, insbesondere der histopathologischen
Befunde und gegebenenfalls einer genetischen Analyse aus dem Tumorgewebe oder einer Blutprobe. Analysen bezüglich des
Vorliegens eines Lynch-Syndroms werden häufig von Seiten der Klinik, der Gastroenterologen oder der betreuenden Hausärzte
veranlasst. Ein unauffälliger genetischer Untersuchungsbefund, zum Beispiel bezüglich eines Lynch-Syndroms,
schließt das Vorliegen einer anderen erblichen Tumorerkrankung aber nicht aus. Eine weiterführende genetische
Diagnostik ist daher unter Umständen angezeigt. Diese sollte im Rahmen eines ausführlichen humangenetischen
Beratungsgespräches erfolgen. Die Erfassungsrate von Familien mit erblichen Tumorerkrankungen
in Deutschland liegt gegenwärtig vermutlich unter zehn Prozent. Das bedeutet, dass sehr viele belastete
Familien nicht erkannt sind und keine intensivierte Vorsorge beziehungsweise Früherkennung erhalten. Bei
einer Tumorerkrankung aus dem Lynch-Spektrum vor dem 50. Lebensjahr oder dem Vorliegen von drei Tumorerkrankungen
in einer Familie ist die Indikation für eine humangenetische Beratung gegeben.
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